Interview Prof. F. Zelger

«... ein Maler, wie es damals viele gab»

Interview mit Kunsthistoriker Prof. em. Franz Zelger

Ein Rundbrief des ‹Verbands der Familien Stirnimann› von 1986 äusserte den Wunsch nach einer «längst fälligen Würdigung unseres Kunstmalers [Stirnimann] durch einen berufenen Fachmann der Kunstgeschichte.»[1] Franz Zelger, der Kunsthistoriker und langjährige Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich, zeigte sich bereit, die Unterlagen zu Stirnimann zu sichten und sich ein Bild über das Leben und Werk des Luzerner Hinterländers zu machen. Im April 2015 trafen wir uns darauf in einem Zürcher Café zum Gespräch.

Martin Fries: Herr Professor Zelger, die vorliegende Arbeit widmet sich dem heute weitgehend unbekannten Maler Friedrich Stirnimann. Sehen Sie einen Sinn oder Wert darin, das Leben und Werk des Ettiswilers aufzuarbeiten?

Franz Zelger: Das sehe ich durchaus. Sie haben die Quellen zu Leben und Schaffen von Friedrich Stirnimann akribisch aufgearbeitet, ohne die Absicht, diesen durchschnittlich begabten Künstler aufzuwerten. Er war ein Maler, wie es damals viele gab, die kaum Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen haben.

Stirnimann «war ein Maler, wie es damals viele gab, die kaum Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen haben.»

Von Interesse sind dagegen die Fragen, denen Sie nachgegangen sind: Wie hat ein solcher Maler gelebt? Wer erteilte ihm Aufträge? Was hat er dabei verdient? Wie wurde er rezipiert? Unter solchen Gesichtspunkten leistet Ihre Arbeit einen soziologisch-kulturellen Beitrag zur schweizerischen Kunstgeschichte dieser Zeit. Das ist das eigentliche Verdienst der vorliegenden Untersuchung.

Verschiedene Ausbildungsstationen prägten Stirnimanns Werdegang – etwa Franz Sales Amlehn in Sursee oder Deschwanden in Stans. Wie muss man sich die von Stirnimann hier verrichteten Gehilfen- oder Kopistenarbeiten vorstellen?

Über das Verhältnis von Deschwanden zu seinen Schülern gibt der Aufsatz von Mathilde Tobler «Melchior Paul von Deschwanden als Kirchenmaler» im Ausstellungskatalog «Ich male für fromme Gemüter» (Kunstmuseum Luzern 1985) ausführlich Auskunft. Deschwanden richtete in seinem Atelier keine Lehranstalt ein. Die meisten Schüler arbeiteten in ihrer Unterkunft in Stans und Umgebung. Zweimal in der Woche durften sie den Meister in seinem Atelier besuchen und ihre Werke zur Begutachtung vorlegen. Auf der anderen Seite suchte Deschwanden hin und wieder seine Schüler auf, um ihre Arbeiten zu überwachen. Nur Auserwählte setzte er als Gehilfen ein.

Deschwandens Schüler durften zweimal in der Woche den Meister in seinem Atelier besuchen und ihre Werke zur Begutachtung vorlegen.

Weitere Fertigkeiten hat sich Stirnimann in Kunstschulen in Karlsruhe und München sowie in Paris angeeignet. Wieso geht ein junger Kunstbeflissener für seine Ausbildung ins Ausland?

Ganz einfach, um sich weiterzubilden. Akademien wie im Ausland gab es damals in der Schweiz nicht. Dazu fehlten die öffentlichen Beiträge oder das fürstliche Mäzenatentum. Einzig in Genf bildete sich in den Ateliers von François Diday[2] und Alexandre Calame[3] eine Art «nationale Schule für Alpenmalerei». Und 1845 eröffnete dort Barthélemy Menn[4] ein privates Lehr-Atelier. Viele Schweizer erhielten ihren ersten Zeichen- und Malunterricht bei einheimischen Künstlern, hin und wieder gar bei Dilettanten, die sich hauptberuflich anderen Tätigkeiten widmeten. Zur eigentlichen Ausbildung zog man dann gerne ins Ausland. Neben ausgedehnten Studienaufenthalten waren auch kürzere Besuche in einzelnen Städten üblich, vor allem in Paris und München, deren Sammlungen wichtige Anziehungspunkte bildeten.

Überrascht es Sie, dass sich der aus kleinbäuerlichem Umfeld und ärmlichen Verhältnissen stammende Stirnimann für eine derartige Ausbildung und damit für eine Laufbahn als Künstler entscheidet?

Da bildet Stirnimann keine Ausnahme. Man denke etwa an Giovanni Segantini[5], an Konrad Grob[6], an Vincenzo Vela[7], ebenfalls Sohn eines Kleinbauern, um nur ein paar wenige Künstler zu nennen, die in ärmlichen Verhältnissen aufwuchsen.

Heute sind Rankings von Ausbildungsstätten en vogue. Wie wären die von Stirnimann besuchten Kunstschulen oder seine Professoren (Ludwig des Coudres, Johann Schraudolph) damals bewertet worden?

Sowohl Ludwig des Coudres als auch Johann Schraudolph genossen in ihrer Zeit eine gewisse Anerkennung. Des Coudres war Professor und Lehrer der Antiken- und Malklasse an der Karlsruher Kunstschule. Gemeinsam mit Johann Wilhelm Schirmer[8] arbeitete er am Aufbau der neuen Akademie. Sein berühmtester Schüler war Hans Thoma.

Schraudolphs künstlerischer Durchbruch erfolgte mit der Ausmalung des Speyrer Domes im Auftrag des bayerischen Königs Ludwig I. Er avancierte in der Folge zum Professor an der Akademie der Bildenden Künste zu München, legte seine Stelle jedoch nieder, als er feststellen musste, dass seine Malerei immer mehr anachronistisch geworden war.

Zurück in der Schweiz suchte Stirnimann offensichtlich eine Beziehung zu Ernst Stückelberg aufzubauen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für Stirnimanns Avancen in Basel?

Ernst Stückelberg entstammte einem angesehenen Basler Patriziergeschlecht. Er war Genre-, Bildnis- und Historienmaler, der vor allem als Schöpfer der Fresken in der Tellskapelle am Urnersee bekannt wurde. Sein Werk hat bei Zeitgenossen wie Jacob Burckhardt[9] und Gottfried Keller[10] Anerkennung und Lob gefunden. Für Stirnimann konnte die erstrebte Bekanntschaft mit Stückelberg nur Nobilitierung in künstlerischer und gesellschaftlicher Hinsicht bedeuten.

Für Stirnimann konnte die «Bekanntschaft mit Stückelberg nur Nobilitierung in künstlerischer und gesellschaftlicher Hinsicht bedeuten.»

Prof. em. Dr. Franz Zelger

 

Stirnimann war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Maler tätig. Wo ist er im schweizerischen kunsthistorischen Umfeld zu situieren?

In seinem Schaffen spiegeln sich – wenn zum Teil auch mit zeitlicher Verspätung – wichtige Strömungen der Epoche. Als Kirchenmaler folgte er bekanntlich dem Nazarenertum von Deschwanden. Dann setzte er sich mit dem zeitgenössischen Realismus auseinander, wobei er in seinen Genreszenen aus der Welt der Armen auf jede Sozialkritik verzichtete. Mit dem Bild des Aare-Ufers bei Olten ist er gar dem Pleinairismus verpflichtet.

Stirnimann war in ganz verschiedenen Kunstgattungen tätig. War Spezialisierung damals kein Thema in der Kunstwelt?

Selbstverständlich gab es Spezialisten, sei es in der Historie, im Porträt, im Genre, in der Stilllebenmalerei oder in der Landschaft. Das heisst aber nicht, dass diese Künstler ausschliesslich auf eine bestimmte Themenwelt fixiert waren und sich für nichts anderes interessierten. Im Gegenteil. Fast alle Künstler beschäftigten sich auch mit Motiven ausserhalb ihres Fachgebietes. So schuf zum Beispiel der Tiermaler Rudolf Koller[11] auch vorzügliche Bildnisse und Landschaften.

Aufgrund seiner Genremalerei wurde Stirnimann bisweilen mit Anker verglichen. Was halten Sie davon?

Da liegen Welten dazwischen, sowohl in inhaltlicher als auch technischer Hinsicht. Anker ist nicht nur der Maler des bodenständigen, sondern zugleich des geistig wachen Bauernstandes. Gegenüber den schweizerischen Genremalern seiner Generation zeigt er eine künstlerische Noblesse, die im französischen Kulturkreis wurzelt. Romanische Sensibilität geht in seinem Werk mit bernischer Tradition und Lebensernst eine Synthese ein. Er malte keine oberflächlichen Bauernnovellen.

Zwischen Albert Anker und Friedrich Stirnimann «liegen Welten».

Prof. em. Dr. Franz Zelger

Stirnimann dagegen tendierte dazu, mittels berechneter Pointierung der Effekte Publikumswirkung zu erzielen. Seine Bauern und Kinder suchen Beziehung zum Betrachter und kokettieren hin und wieder gar mit ihm. Durch Ankers Verzicht, Farbton und Gestik theatralisch zu steigern, bühnenhaft wirksam aufzumontieren, unterscheidet er sich nicht nur von Stirnimann, sondern von zahlreichen, inzwischen vergessenen Genremalern. Seine Bilder zeugen von gepflegter Peinture, die man bei vielen Zeitgenossen vergeblich sucht.

Stirnimann «tendierte dazu, mittels berechneter Pointierung der Effekte Publikumswirkung zu erzielen.»

Prof. em. Dr. Franz Zelger

Stirnimann scheint weder ein idealisierender Realist zu sein noch die Lebensumstände der von ihm dargestellten Charaktere politisch-sozialkritisch instrumentalisieren zu wollen. Sehen Sie in Stirnimanns Werk eine Botschaft?

Nein. Er malt seine Umgebung, wie er sie sieht. Nichts wird beschönigt. So vermittelt er häufig Einblicke in das karge Leben der Kleinbauern, wobei die Protagonisten ihr Schicksal ohne Verbitterung erdulden.

Wie schätzen Sie die von Stirnimann gemalten Porträts ein?

Wie in der Landschaftsmalerei gelingt Stirnimann auch in seinen Porträts neben unbedeutenden Elaboraten hin und wieder ein Wurf. Er verzichtet jedoch stets auf repräsentative Posen bei seinen Dargestellten, vielmehr hebt er deren natürliche Erscheinung hervor.

Stirnimann erstellte neben den Porträts von ganz gewöhnlichen Leuten auch solche von lokaler Prominenz, etwa von Politikern oder anderen Malern. Ist das als Zeichen für sein Können und Ansehen zu deuten?

Ich vermute, da spielten vor allem persönliche Beziehungen eine Rolle.

Stirnimanns drittes wichtiges Standbein war die Kirchenmalerei. Welchen Platz nimmt sein Werk in diesem Bereich ein?

Obwohl Stirnimann zahlreiche Aufträge für Kirchen erhielt, ist er ein wenig bedeutender Nachfahre von Deschwanden. Stirnimann adaptierte in seinen blutleeren religiösen Bildern Deschwandens Stil, ohne aber dessen Niveau zu erreichen.

Stirnimann hält 1872 fest, dass es Zeit sei, sich endlich «einmal von der […] Süßmalerei zu emancipieren». Meint er damit den Nazarener-Stil?

Er meint wohl ganz konkret die Deschwanden-Schule.

Nicht gerade schmeichelhaft tönt Paul Hilbers Aussage, Stirnimanns Werk bestehe aus einer «grosse[n] Reihe höchst primitiver Bauernbildnisse». Teilen Sie diese Einschätzung zu Stirnimanns Œuvre?

Eine solche Aussage würde ich bei allen Vorbehalten gegenüber seinen Bauernbildnissen etwas relativieren mit dem Hinweis auf das, was ich in der Gegenüberstellung von Anker und Stirnimann gesagt habe.

Welche Aspekte, die wir bisher noch nicht gestreift haben, würden Sie im Zusammenhang mit Stirnimann unbedingt noch betonen?

Wer sich mit diesem Künstler befasst, kann nicht umhin, den Kilbi-Zyklus zu erwähnen. Er befindet sich heute in der Brauerei Heineken in Luzern. Diese bunte, vielfältige Bildfolge, die zehn in sich geschlossene Szenen mit musizierenden, tanzenden, essenden, trinkenden und sich balgenden Menschen wiedergibt, bezeichnet einen Höhepunkt im Schaffen von Stirnimann. Erzählfreude und Humor sind hier einzigartig in seinem Œuvre. In der Verbindung mit zahlreichen Porträts von lokalen Persönlichkeiten bilden sie ein lebendiges Ganzes und vor allem einen Zyklus von beachtenswertem Niveau.

 

Das Interview wurde im Nachgang zu einem persönlichen Treffen auf schriftlichem Weg geführt.

Referenzen


[1] Verband der Familien Stirnimann, Rundbrief Nr. 12/1986, S. 13.

[2] François Diday (1802 Genf – 1877 Genf), Landschaftsmaler und Kunstprofessor, «führender Kopf der Genfer Schule der Alpenmalerei». Vgl. Anker Valentina, François Diday, e-HLS; Buyssens Danielle, Diday François [1998], SIKART.

[3] Alexandre Calame (1810 Vevey – 1864 Menton), u.a. Maler, Zeichner und Litograph. Kunstprofessor. Alpenmalerei der Schweizer Romantik. Vgl. Anker Valentina, Alexandre Calame, e-HLS; Anker Valentina, Calame Alexandre [1998, aktualisiert 2015], SIKART.

[4] Barthélemy Menn (1815 Genf – 1893 Genf), Landschafts- und Porträtmaler; Kontakte mit den Landschaftsmalern der Schule von Barbizon (F); einflussreicher Professor an der Genfer Kunstschule; u.a. Lehrer von Ferdinand Hodler. Vgl. Hauptmann William, Barthélemy Menn, e-HLS; Pianzola Maurice, Menn Barthélemy [1998], SIKART.

[5] Giovanni Segantini (1858 Arco – 1899 Pontresina/Schafberg), Maler. Landschaften, Portäts und Stillleben. Mitbegründer und wichtigster Vertreter des Divisionismus. Vgl. Lardelli Dora, Segantini Giovanni Battista Emmanuele Maria [1998, aktualisiert 2011], SIKART.

[6] Konrad Grob (1828 Andelfingen – 1904 München), Historien- und Genremaler. Radierungen und Lithorafien. Vgl. Sprenger Mariuccia, Grob Konrad [1998], SIKART.

[7] Vincenzo Vela (1820 Ligornetto – 1891 Ligornetto, heute Gemeinde Mendrisio), Bildhauer, Hauptvertreter der naturalistischen Bildhauerei. Vgl. Mina Gianna A., Vincenzo Vela, e-HLS; Zanchetti Giorgio, Vela Vincenzo [1998], SIKART.

[8] Johann Wilhelm Schirmer (1807 Jülich –1863 Karlsruhe), Landschaftsmaler, Radierer, Lithograf. Erster Direktor der Karlsruher Kunstschule. Vgl. Tietze Andrea, Schirmer, Johann Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 9–10 [Onlinefassung].

[9] Jacob Burckhardt (1818 Basel – 1897 Basel), Kultur- und Kunsthistoriker; u.a. 1858–1886 Professor für Geschichte an der Universität Basel. Vgl. Ganz Peter, Jacob Burckhardt, e-HLS.

[10] Gottfried Keller (1819 Zürich – 1890 Zürich), u.a. Schriftsteller («gehört […] zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schweizer Autoren des 19. Jh.»); Politiker und von 1861–1876 erster Staatsschreiber des Kantons Zürich. Vgl. Amrein Ursula, Keller Gottfried, e-HLS.

[11] Rudolf Koller (1828 Zürich – 1905 Zürich), Tier-, Landschafts- und Porträtmaler. Gehört «zu den wichtigsten Vertretern des Naturalismus». 1893–1897 Mitglied der Eidg. Kunstkommission. Vgl. Chessex Pierre, Rudolf Koller, e-HLS; Wegmann Peter, Koller Rudolf [1998, aktualisiert 2014], SIKART.