Die Kunstkritik und Stirnimann
Wie beurteilt(e) die Fachwelt Stirnimanns Œuvre? Substanzielle Analysen lassen sich keine finden. Im Anschluss werden daher Stimmen aus dem kunstgeschichtlichen Umfeld der Jahre 1898 (Josef Viktor Widmann), 1945 (Paul Hilber) und 2010 (Jochen Hesse) zitiert, die sich zumindest punktuell mit Stirnimann auseinandergesetzt haben. Diese Kunsthistoriker und Kunstkritiker machen (meist kritische) Bezüge zwischen Stirnimanns Arbeiten und denjenigen bekannterer Künstler wie Albert Anker, Benjamin Vautier oder Ludwig des Coudres. Ebenso zeigen sie, dass Stirnimanns Genremalerei schon zu dessen Lebzeiten als veraltet galt.
Josef Viktor Widmann (1898)
In einer Besprechung der Nationalen Kunstausstellung in Basel von 1898 zeigt der Literaturkritiker und Feuilletonredaktor des ‹Bund›, Josef V. Widmann[1], dass die von Stirnimann gepflegte Kunstrichtung zumindest unter Kunstverständigen als altbacken und demodiert galt. Gleichzeitig würdigt er aber auch die «vortreffliche» Qualität von Stirnimanns Werk ‹Die beiden Alten›:
«Nur des allmählich gegen die Sechzig rückenden, durch asthmatisches Leiden viel behinderten Luzerner Malers Friedrich Stirnimann möchte ich hier noch Erwähnung tun, um auch ein Typus der älteren Kunst aufgeführt zu haben. Auf seinen beiden Bildern ‹Die Alten› (alte Bauersleute, die auf einem Ofen sitzen) und ‹Ein Apfel› (Kinderscene in ländlichem Interieur) huldigt er allerdings einer Kunstrichtung, die von der heutigen Künstlergeneration nur etwa noch als Illustration in Familienblätter geduldet wird, der Genremalerei nämlich. Aber manche Junge, die an solchen Bildern achtlos vorübergehen, besitzen vielleicht nicht die sichere Zeichnung, die Stirnimann als Zunftgenossen Ankers und Vautiers[2] erkennen lässt. […] Hat nun Stirnimann dies alles mit den Mitteln einer allerdings von der modernen Entwicklung beiseite geschobenen Kunst ausgeführt, so ist sein Bild innerhalb dieser Kunst und ihrer Technik eine vortreffliche Leistung.»[3]
Paul Hilber (1945)
Wenn Widmann 1898 betonte, dass der Genre-Stil in Kunstkreisen längst ausser Mode sei, unterstreicht Paul Hilber[4] noch knapp 50 Jahre später, dass diese Kunstrichtung insbesondere bei Laien weiterhin Anklang und Gefallen finde. Der Konservator des Kunstmuseums Luzern schreibt im Katalog zur Ausstellung ‹Bachmann–Fellmann–Stirnimann› von 1945: Eine Ausstellung zur Kunst des späteren 19. Jahrhunderts habe das «Besondere an sich, dass weite Volkskreise in ihrem künstlerischen Empfinden noch dort ‹zu Hause› sind, wo die Kunst des ausgehenden letzten Jahrhunderts ihren geistigen und formalen Standort hatte, während der Kenner der Entwicklung, der mit den grossen seitherigen Bewegungen des Impressionismus, Expressionismus und der abstrakten und surrealen Ausweitung der künstlerischen Ausdrucksmittel vertraut ist, vielfach Mühe hat, jener Zeit die Würde einer ‹historischen› Betrachtung bereits zuzuerkennen.»[5]
Über dem Schaffen der drei Künstler Hans Bachmann, Alois Fellmann und Fritz Stirnimann glänze, so Hilber weiter, der «Nimbus des Düsseldorfer Lehrmeisters Benjamin Vautier, auch dann, wenn keiner der drei Luzerner Künstler sein unmittelbarer Schüler gewesen sein dürfte.» Alle drei hätten «ihren geistigen Ausgangspunkt und ihre formale Grundlage in der deutschen Schule von Düsseldorf, Karlsruhe und München» gesucht, «wobei immer wieder als Grunderlebnis die geistige Haltung Benjamin Vautiers» zu erkennen sei.[6]
«Stets ist man bei Stirnimann zum Vergleich mit Anker gereizt und muss dann die Unzulänglichkeit der geistigen Vertiefung in das Wesen der Malerei, wie Anker sie in Paris durch viele Jahre gewann, doch erkennen.»
Auch zu Stirnimann selbst äussert sich Hilber, indem er ein eigentliches Charakterbild desselben zeichnet, welches er geschickt und durchaus überzeugend mit einer kunstkritischen Würdigung seines Schaffens verwebt. Vielleicht mutet Hilbers Urteil zunächst übertrieben «hart»[7] an, wie etwa Meyer-Sidler beinahe etwas düpiert festgehalten hat. Der Konservator des Kunstmuseums Luzern scheint aber Stirnimann ein gewisses Talent und bestimmte Qualitäten durchaus nicht abzusprechen. Er verkennt hingegen zu Recht nicht, dass die in Stirnimann ‹schlummernden Kräfte› sich nie vollständig entfalten und entwickeln konnten. Wie das anschliessende ausführliche Zitat zeigt, macht er hierfür neben der mangelnden Auseinandersetzung mit der Malerei verschiedene weitere Gründe geltend – etwa charakterliche, soziale und nicht zuletzt auch gesundheitliche:
«Stets ist man [bei Stirnimann] zum Vergleich mit Anker gereizt und muss dann die Unzulänglichkeit der geistigen Vertiefung in das Wesen der Malerei, wie Anker sie in Paris durch viele Jahre gewann, erkennen. Ängstlich anmutende Ausblicke auf andere stoffliche Möglichkeiten, wie sie das Bild ‹Audifax und Hadumoth›[8] nach Scheffels[9] Dichtung hindeutet, und die irgendwie in eine Böcklinsche Welt hineinführen, verraten die geistige Unsicherheit. So bleibt neben dem stillen Versenken in ein künstlerisch erstrebtes Schildern des Volkslebens, dem jedoch Ankers Bewusstsein von farbiger Gestaltung abgeht und dem ein rein zeichnerisches Grunderlebnis wenig Anlass zum farbigen Malimpuls verleiht, das Bildnisfach als Ausflucht aus des Lebens grösster Notdurft. Aber auch hier erkennen wir, vom Selbstbildnis[10] in seiner stillen Bescheidenheit bis zur ausdrucksvollen Steigerung im Kapuzinerbild[11] schreitend, eine auffallende Dürftigkeit im farbigen Ausdruck, ein unverkennbares Vertrauen in das zeichnerische Können, das jedoch der farbigen Äquivalenz in Absicht und Vermögen entbehrt.
Wenn Stirnimann gelegentlich eine Dame der Luzerner Gesellschaft mit einem formalen Rückblick auf die grosse Bildnistradition eines Wyrsch[12] malt oder das Bildnis irgend eines französischen Arbeiters in überzeugender Sicherheit auf die Leinwand wirft, dann spüren wir die Sehnsüchte des Künstlers nach grösserer Vertiefung in das Wesen der Malerei. Dass auch verschiedene religiöse Aufträge (Kirche in Ettiswil[13] etc.) – der frühesten Schulung durch Deschwanden entsprechend – zu keinem entscheidenden Durchbruch des Gestaltungstemparaments zu verhelfen wussten, vertieft den Eindruck einer Künstlerpersönlichkeit, die im harten Lebenskampf ermüdet, bei bäuerisch dürftiger Anregung und zuletzt bei starker Beengung des Schaffens durch ein frühzeitiges Asthmaleiden ihre volle Entfaltung schlummerender Kräfte nie recht gefunden.
Eine grosse Reihe höchst primitiver Bauernbildnisse ergänzt das tragisch-melancholische Bild dieser von den Nöten des Lebens und von den unzureichenden Erfahrungen der grossen Kunst gepeinigten stillen Künstlernatur.»[14]
Jochen Hesse (2010)
Die Bemerkungen des Kunsthistorikers Jochen Hesse zu Stirnimanns Werk sind aus seiner Analyse des Bilderzyklus ‹Kilbe Kirchweih im Kanton Luzern› entnommen. Während Hilber die Bedeutung von Vautier im Schaffen Stirnimanns hervorhebt, vermutet Hesse in Stirnimanns Porträtmalerei Ludwig des Coudres (1820–1878)[15] als Quelle der Inspiration. Des Coudres war Stirnimanns Lehrer in Karslruhe, ein «Historien- und Porträtmaler in der Nachfolge der Nazarener, einer Gruppe junger Maler der deutschen Romantik, die eine religiöse patriotische Kunst im Stile der Frührenaissance anstrebten.» Bei des Coudres habe der Ettiswiler «die Porträtkunst mit betonten Konturen» gelernt: «Wie des Coudres verzichtete Stirnimann auf eine besonders repräsentative Wiedergabe der Porträtierten und betonte deren natürliche Erscheinung.»[16]
In der religiösen Malerei Stirnimanns sei der Einfluss Deschwandens klar erkennbar. Stirnimann sei es nie gelungen, «sich vom Stil Melchior Paul von Deschwandens, des äusserst populären religiösen Malers der Innerschweiz, zu lösen».[17]
«Bei Stirnimanns Genrebildern handelt es sich häufig um Einblicke in die kargen Lebensumstände der Kleinbauern, denen der Künstler selbst entstammte.»
Bei der Beurteilung von Stirnimanns Genrebildern bezieht sich Hesse zunächst auf den Kilbi-Zyklus. Hier zeigt er Parallelen zu älteren Kirchweih-Darstellungen, etwa zu derjenigen des Niederländers Pieter Brueghel d.Ä. von 1568 auf. Während Brueghel aber mit seinen karikierenden Darstellungen zechender, gefrässiger, unkeuscher Bauernsleute den Zeigfinger auf bäuerischen Müssiggang und mangelhafte Arbeitsmoral erhoben habe, fehle dieser moralisierende Aspekt bei Stirnimann: «Im Unterschied zu den niederländischen Künstlern, die nicht dem Bauernstand entstammten, fühlte sich Stirnimann diesem verbunden.»[18] Zu Stirnimanns Genre-Gemälden im Allgemeinen stellt Hesse sodann fest, dass Stirnimann – im Unterschied zu bekannteren Vertretern der alpenländischen Genremalerei wie etwa Franz von Defregger (1835–1921)[19], Ludwig Knaus (1829–1910)[20] und Benjamin Vautier – das «ländliche Leben nicht idealisierend» darstelle. Und weiter:
«Auch fehlt seiner Kunst deren sentimentaler Charakter. Aus Stirnimanns Fries [der Kilbi-Bilderzyklus] spricht Erzählfreude, die typisch für die Genremalerei ist. Im Unterschied zum Historienbild mit seinen Darstellungen bedeutender Ereignisse, gibt das Genrebild Szene des einfachen Lebens wieder – kleine und grosse Begebenheiten, Freuden und Sorgen und alltägliche Gewohnheiten des bäuerlichen Milieus und des Bürgertums. Bei Stirnimanns Genrebildern handelt es sich häufig um Einblicke in die kargen Lebensumstände der Kleinbauern, denen der Künstler selbst entstammte. Es sind einfühlsame Szenen, die das harte Dasein der Menschen nicht beschönigen. Stirnimann wich in seinen Bildern den Problemen seiner Zeit, dem mangelnden Auskommen der einfachen Bauern, nicht aus. Es sind Gemälde, die ans Mitgefühl des Publikums appellieren. Die Protagonisten sind nicht verbittert, sie erdulden ihr Schicksal mit Demut. Insofern spricht aus Stirnimanns Genrebildern keine Sozialkritik. Seine Werke sind weniger gemütvoll als die Bilder seines bekannteren Kollegen Albert Anker. Wo dieser in seinen Interieurdarstellungen Beschaulichkeit und Genügsamkeit vermittelt, äussern sich in Stirnimanns Genrebildern Kargheit, Hunger und Sorgen.»[21]
Diese hier von Hesse beschriebenen Darstellungen des einfachen, ärmlichen Lebens, sieht das Luzerner Tagblatt interessanterweise gerade auch als ein Grund für den teilweise ausbleibenden Erfolg Stirnimanns:
«Was für Stirnimanns Erfolg ein Hemmnis war, ist der Umstand, dass der Künstler seine Motive leider zu viel ‹in der Hütte der Armen› suchte und dem Kunstfreunde das Elend, dass sich in Wirklichkeit genug sehen lässt, damit zu oft in Bildern vor Augen führte.»[22]